Sehr geehrte Damen und Herren,
das Editorial für diesen Newsletter schreibe ich am Abend der Kommunalwahl in NRW. Immer wieder schaue ich in den Newsticker. Die Hochrechnungen werden immer präziser, an den Prozentzahlen ist nicht zu rütteln, und doch werden viele Worte gemacht. Es werden wortreich Einschätzungen und Erklärungen gegeben, die Zahlen kleingeredet oder hoch gehypt; Statements, Glückwünsche, Jubel und Enttäuschung: alles braucht Worte, braucht Sprache. Am Wahlabend gibt es traditionell das Ringen um die politische Deutungshoheit, um Gewinn und Verlust, bei dem es auf jedes Wort ankommt.
Sprache ist das A und O nicht nur am Wahlabend von NRW, Leben braucht Sprache, auch in Form der Körper- oder Gebärdensprache. Worte, gesprochen oder geschrieben, hingehaucht oder in die Welt posaunt. Worte sind viel mehr als nur Worte. Worte sind Leben, sind Wahrheit; sie sind Sinn und Orientierung. Deshalb sind Behauptungen ohne jeglichen realen Grund, fake news, Halbwahrheiten oder Lügen Gift für eine Gesellschaft, weil sie Menschen manipulieren wollen und damit das gesellschaftliche Zusammenleben zerstören können.
Bitter ist die Geschichte um die Kandidatur von Frauke Brosius-Gersdorf als Bundesverfassungsrichterin: eine Geschichte zwischen fake news, streckenweise unsachlicher Debatte und offengebliebenen politischen Stilfragen im demokratischen Diskurs. Dass die am öffentlichen Diskurs Beteiligten alles tun sollten, um Menschen nicht zu beschädigen, scheint nicht mehr common sense zu sein. Die Erklärung, die Frau Brosius-Gersdorf zu ihrem Verzicht auf ihre Kandidatur abgegeben hat, verdient hohe Anerkennung, zeugt sie doch mit sehr überlegten Worten von einem respektvollen Umgang mit andersdenkenden Menschen und macht den Weg für eine neue Kandidatin in einer politisch verhärteten Situation frei.
Es findet gegenwärtig ein breiter Diskurs in den Wissenschaften über die Krisen, Gefahren und Herausforderungen in dieser Welt und die möglichen Lösungen dafür statt. Dieser Diskurs füllt auch die Kolumnen und das Feuilleton ebenso wie die sozialen Medien, wo die likes für Lösungsvorschläge gesammelt werden. Diesen Diskurs führen wir in anderer Gestalt gegenwärtig in der Kirche, auch hier geht es um Krisen, Gefahren und Herausforderungen und werden die Innovation erdacht und umgesetzt, die heraushelfen und die Kirche zukunftsfähig machen können.
Politisch wird ein heißer Herbst erwartet, in dem die Politik Antworten auf die Probleme „liefern“ soll, allen voran das Lösen des Innovationsstaus, um die Wirtschaft wieder auf die Beine zu bringen. Dass wir aber auch das Sozialsystem, gerade im Bereich der Pflege, überhaupt erst zukunftsfähig auf die Beine stellen müssen, steht dabei nicht im Vordergrund. Es braucht eine neue Balance zwischen Wirtschaft, Sozialsystem und nicht zuletzt Ökologie. Diese lebensdienliche Balance zu erreichen – und das wird mehr als die Monate dieses Herbstes brauchen, dafür braucht es den Mut, Innovationen nicht nur zu denken, sondern auch konkret umzusetzen. Es braucht die Einsicht, dass nur gemeinsam, mit einem denkbar breiten gesellschaftlichen Konsens, Veränderungen gelingen können. Und es braucht die Zuversicht, dass solche Veränderungen möglich sind, und nicht nur Worte bleiben.
Zum Schluss: Die Bibel ist voller Lebensweisheiten. „Ein Wort, geredet zur rechten Zeit, ist wie goldene Äpfel auf silbernen Schalen.“ (Sprüche 25, 11) Deshalb mein Wunsch nicht nur in diesem Herbst, dass in Gesellschaft und Kirche „viele goldene Äpfel“ in die Waagschale für einen gemeinsamen Weg zur Bewältigung der Krisen, Probleme und Herausforderungen gelegt werden.
Mit herzlichen Grüßen,
Ihre
Dr. Kerstin Gäfgen-Track