Von der „Aktion Ungeziefer“ bis zur Wiedervereinigung

Nachricht 03. Oktober 2025

Das ehemals geteilte Zicherie-Böckwitz feiert 35 Jahre Einheit

Inge Jakobs aus dem niedersaechsischen Zicherie arbeitet ehrenamtlich im Grenzmuseum im benachbarten Boeckwitz in Sachsen-Anhalt. Das Doppeldorf Zicherie-Boeckwitz war seit der Grenzschliessung im Jahr 1952 fast vierzig Jahre lang geteilt. Foto: epd-bild/Urs Mundt

Zicherie/Böckwitz (epd). Wo früher der Todesstreifen verlief, bestimmt heute Dorfidylle das Bild. Zwischen grasenden Pferden und Hofgebäuden schiebt Inge Jakobs ihr Rad über die Straße, die Zicherie und Böckwitz wieder verbindet. „Diese Straße ist nach der Wende wiederentdeckt worden“, erklärt die 74-Jährige und zeigt auf das Kopfsteinpflaster.

Jakobs lebt im niedersächsischen Zicherie und ist auf dem Weg nach Böckwitz, den östlichen Dorfteil, der heute zu Sachsen-Anhalt gehört. Das Doppeldorf ist neben Mödlareuth an der thüringisch-bayerischen Grenze eines von zwei Dörfern in Deutschland, in denen die Grenze mitten durch die Ortschaft lief - ein Kuriosum, das zu DDR-Zeiten immer wieder Schaulustige nach Zicherie lockte.

Doch für Inge Jakobs' Familie war die Teilung bitterer Ernst. Ihr Vater hatte einen Hof in Böckwitz. Wie viele Landwirte galt er den DDR-Machthabern als „reaktionär“, wie sie erzählt. Als die DDR-Führung die Grenze 1952 schloss, wurde die Familie im Rahmen der „Aktion Ungeziefer“ nach Sachsen zwangsumgesiedelt und enteignet. Inge Jakobs war damals elf Monate alt. Nach der Flucht in den Westen gelang es den Eltern, sich in Zicherie anzusiedeln.

Der Hof, den die Familie über viele Generationen aufgebaut hatte, lag nur 400 Meter entfernt - und war doch unerreichbar. „Das hat meinen Vater unendlich geschmerzt. Darüber wurde bei uns zu Hause aber kaum gesprochen.“ Die Eltern bauten sich ein neues Leben auf. Der Vater fand eine Anstellung bei VW in Wolfsburg. Tochter Inge wurde später Lehrerin. Ihre Kinder leben heute in Böckwitz, auf dem Gelände des einstigen Hofes.

Jakobs ist an der Stelle angekommen, wo früher das Hauptgebäude stand. Da jahrelang nichts repariert worden war, blieb 1984 nur der Abriss. Geblieben ist ein Hausstein, den ein Onkel während der Abrissarbeiten rettete. Heute ist er gut sichtbar in den gemauerten Eingang zum Hofgelände integriert. Unter dem Baujahr 1885 und den Namen der Erbauer ist in vergoldeter Frakturschrift zu lesen: „Unsern Ein- und Ausgang segne Gott.“

Der Stein steht für tiefe Wunden, die nie ganz geheilt sind, aber auch für Versöhnung und Freude über die Wiedervereinigung. Jakobs' Eltern sind inzwischen gestorben. Wer sie damals als politisch unzuverlässig denunzierte oder wer die Hofgebäude herunterwirtschaftete, davon möchte sie nichts wissen. „Ich hege keinen Groll, und das haben auch meine Eltern nicht getan.“ Ihr Vater habe nach der Wende vielmehr viele Freundschaften in Böckwitz wiederbelebt.

Ein Grenzort zwischen hannoverschen und brandenburgisch-preußischen Landen ist das Doppeldorf schon seit Jahrhunderten. Dennoch gingen Zicherier und Böckerwitzer bis zum Ende des Krieges gemeinsam zur Schule, spielten Fußball, heirateten und trafen sich beim Schützenfest. Dieses Dorfleben gibt es so nicht mehr. Die Gaststätte, die den Grenzanlagen weichen musste, wurde nicht wiederaufgebaut. Zudem besuchen die Kinder wegen der Landesgrenze verschiedene Kitas und Schulen. „Auch auf dem Spielplatz und auf dem Bolzplatz trifft sich die Jugend kaum noch, wegen des Nachmittagsunterrichts und wegen der sozialen Medien.“

Ost und West seien insgesamt „ein gutes Stück“ zusammengerückt, sagt Jakobs. „Aber doch nicht so, dass man sagen kann, es ist vollendet.“ Mentalitätsunterschiede zeigten sich etwa im Politischen. „Bei der Bundestagswahl waren alle Wahlkreise in Sachsen-Anhalt blau.“ Auffällig finde sie auch das „Schweigen“ vieler DDR-sozialisierter Bürger. „Wenige trauen sich, über die Zeit der DDR sprechen.“ Eine Ursache sieht die Lehrerin im Schulsystem der DDR: Den Jugendlichen sei viel weniger als im Westen beigebracht worden, zu diskutieren und einen Standpunkt einzunehmen.

Sie treffe aber auch viele Böckwitzer, die ihre Lebensgeschichte bereitwillig teilten, etwa im kleinen Grenzmuseum in Böckwitz, für das sich Jakobs seit Jahren engagiert. Ihr sei es ein großes Anliegen, die Erinnerung an die menschenverachtende Grenze wachzuhalten und das Verständnis für die Lebensläufe in West und Ost zu befördern.

Unter dem Motto „zusammen wachsen“ feiert das Museum am Tag der Deutschen Einheit wie jedes Jahr ein großes Fest. Jakobs verbindet mit der Wiedervereinigung vor allem tiefe Dankbarkeit. „Ein Segen, ein kleines Wunder“ sei es, dass die Wende ohne Blutvergießen verwirklicht werden konnte. Zu verdanken sei dies nicht zuletzt den mutigen Bürgern, die friedlich gegen das DDR-Regime protestierten. „Ich glaube aber auch, dass jemand seine schützende Hand drübergehalten hat.“

Von Urs Christian Mundt (epd)

Das Stichwort: Tag der Deutschen Einheit

Am Tag der Deutschen Einheit wird die Wiedervereinigung der mehr als 40 Jahre lang getrennten beiden deutschen Staaten gefeiert. Diese wurde am 3. Oktober 1990 mit dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 23 vollzogen. Der 3. Oktober ist bundesweit ein gesetzlicher Feiertag, alle Arbeitnehmer haben frei, Läden bleiben geschlossen.

Die jährliche Feier richtet immer das Bundesland aus, welches aktuell die Bundesratspräsidentschaft inne hat. Im 35. Jahr der Einheit ist es das Saarland mit Ministerpräsidentin Anke Rehlinger (SPD). Vom 2. bis 4. Oktober findet in Saarbrücken ein Bürgerfest statt, am 3. Oktober ein ökumenischer Gottesdienst und ein Festakt. Dazu wird in diesem Jahr auch der französische Staatspräsident Emmanuel Macron erwartet. Die Feierlichkeiten stehen unter dem Motto „Zukunft durch Wandel“.

Seit den 1960er-Jahren waren die Bundesrepublik Deutschland und die DDR durch eine mit Stacheldraht, Mauer, Minen und Wachpersonal gesicherte Grenze geteilt. Dieser „Eiserne Vorhang“ trennte auch Niedersachsen vom Osten Deutschlands.

Hunderte von Flüchtlingen starben im Laufe der Jahrzehnte bei dem Versuch, auf die andere Seite zu gelangen. Am 9. November 1989 wurden die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten und die Durchgänge in der Berliner Mauer als Ergebnis der friedlichen Revolution in der DDR dauerhaft geöffnet.

epd niedersachsen-bremen