Zicherie/Böckwitz (epd). Wo früher der Todesstreifen verlief, bestimmt heute Dorfidylle das Bild. Zwischen grasenden Pferden und Hofgebäuden schiebt Inge Jakobs ihr Rad über die Straße, die Zicherie und Böckwitz wieder verbindet. „Diese Straße ist nach der Wende wiederentdeckt worden“, erklärt die 74-Jährige und zeigt auf das Kopfsteinpflaster.
Jakobs lebt im niedersächsischen Zicherie und ist auf dem Weg nach Böckwitz, den östlichen Dorfteil, der heute zu Sachsen-Anhalt gehört. Das Doppeldorf ist neben Mödlareuth an der thüringisch-bayerischen Grenze eines von zwei Dörfern in Deutschland, in denen die Grenze mitten durch die Ortschaft lief - ein Kuriosum, das zu DDR-Zeiten immer wieder Schaulustige nach Zicherie lockte.
Doch für Inge Jakobs' Familie war die Teilung bitterer Ernst. Ihr Vater hatte einen Hof in Böckwitz. Wie viele Landwirte galt er den DDR-Machthabern als „reaktionär“, wie sie erzählt. Als die DDR-Führung die Grenze 1952 schloss, wurde die Familie im Rahmen der „Aktion Ungeziefer“ nach Sachsen zwangsumgesiedelt und enteignet. Inge Jakobs war damals elf Monate alt. Nach der Flucht in den Westen gelang es den Eltern, sich in Zicherie anzusiedeln.
Der Hof, den die Familie über viele Generationen aufgebaut hatte, lag nur 400 Meter entfernt - und war doch unerreichbar. „Das hat meinen Vater unendlich geschmerzt. Darüber wurde bei uns zu Hause aber kaum gesprochen.“ Die Eltern bauten sich ein neues Leben auf. Der Vater fand eine Anstellung bei VW in Wolfsburg. Tochter Inge wurde später Lehrerin. Ihre Kinder leben heute in Böckwitz, auf dem Gelände des einstigen Hofes.
Jakobs ist an der Stelle angekommen, wo früher das Hauptgebäude stand. Da jahrelang nichts repariert worden war, blieb 1984 nur der Abriss. Geblieben ist ein Hausstein, den ein Onkel während der Abrissarbeiten rettete. Heute ist er gut sichtbar in den gemauerten Eingang zum Hofgelände integriert. Unter dem Baujahr 1885 und den Namen der Erbauer ist in vergoldeter Frakturschrift zu lesen: „Unsern Ein- und Ausgang segne Gott.“
Der Stein steht für tiefe Wunden, die nie ganz geheilt sind, aber auch für Versöhnung und Freude über die Wiedervereinigung. Jakobs' Eltern sind inzwischen gestorben. Wer sie damals als politisch unzuverlässig denunzierte oder wer die Hofgebäude herunterwirtschaftete, davon möchte sie nichts wissen. „Ich hege keinen Groll, und das haben auch meine Eltern nicht getan.“ Ihr Vater habe nach der Wende vielmehr viele Freundschaften in Böckwitz wiederbelebt.
Ein Grenzort zwischen hannoverschen und brandenburgisch-preußischen Landen ist das Doppeldorf schon seit Jahrhunderten. Dennoch gingen Zicherier und Böckerwitzer bis zum Ende des Krieges gemeinsam zur Schule, spielten Fußball, heirateten und trafen sich beim Schützenfest. Dieses Dorfleben gibt es so nicht mehr. Die Gaststätte, die den Grenzanlagen weichen musste, wurde nicht wiederaufgebaut. Zudem besuchen die Kinder wegen der Landesgrenze verschiedene Kitas und Schulen. „Auch auf dem Spielplatz und auf dem Bolzplatz trifft sich die Jugend kaum noch, wegen des Nachmittagsunterrichts und wegen der sozialen Medien.“
Ost und West seien insgesamt „ein gutes Stück“ zusammengerückt, sagt Jakobs. „Aber doch nicht so, dass man sagen kann, es ist vollendet.“ Mentalitätsunterschiede zeigten sich etwa im Politischen. „Bei der Bundestagswahl waren alle Wahlkreise in Sachsen-Anhalt blau.“ Auffällig finde sie auch das „Schweigen“ vieler DDR-sozialisierter Bürger. „Wenige trauen sich, über die Zeit der DDR sprechen.“ Eine Ursache sieht die Lehrerin im Schulsystem der DDR: Den Jugendlichen sei viel weniger als im Westen beigebracht worden, zu diskutieren und einen Standpunkt einzunehmen.
Sie treffe aber auch viele Böckwitzer, die ihre Lebensgeschichte bereitwillig teilten, etwa im kleinen Grenzmuseum in Böckwitz, für das sich Jakobs seit Jahren engagiert. Ihr sei es ein großes Anliegen, die Erinnerung an die menschenverachtende Grenze wachzuhalten und das Verständnis für die Lebensläufe in West und Ost zu befördern.
Unter dem Motto „zusammen wachsen“ feiert das Museum am Tag der Deutschen Einheit wie jedes Jahr ein großes Fest. Jakobs verbindet mit der Wiedervereinigung vor allem tiefe Dankbarkeit. „Ein Segen, ein kleines Wunder“ sei es, dass die Wende ohne Blutvergießen verwirklicht werden konnte. Zu verdanken sei dies nicht zuletzt den mutigen Bürgern, die friedlich gegen das DDR-Regime protestierten. „Ich glaube aber auch, dass jemand seine schützende Hand drübergehalten hat.“
Von Urs Christian Mundt (epd)